„Eins vorneweg: Das Wetter ist beschissen und das bleibt auch so.“ Die Worte des türkischen Kapitäns hallen in unseren Köpfen nach wie die überlauten Klänge von schweren Glocken einer Kathedrale. Das Gute an dem Satz: Wir wissen nun, woran wir bei unserem Segeltörn sind. Das Schlechte: Der Kapitän sollte sogar noch untertrieben haben. Doch das wissen wir in diesem Moment noch nicht und das ist auch gut so.
Mit großer Vorfreude und viel Elan war der Bootstrupp am Morgen in Portobelo, einem heruntergekommenen Hafenort an der karibischen Küste mit spannender Historie, zwei Stunden von Panama City entfernt, eingetroffen. Toni, 45, Umweltprofi bei Greenpeace in Hamburg, Jan-Peter, 23, ein junger Langzeit-Reisender aus Kiel mit fertigem Studium und aussichtsreichen Plänen in der Gastronomie, der in Guatemala Kaitlin und Ropey, ein junges verrücktes Paar aus Australien kennengelernt hatte und mit ihnen den Trip buchte. Dazu sitzen Amanda, eine Kanadierin, 31, und Sarah aus England, 29, am Tisch, die zusammen ebenfalls schon seit Monaten Zentralamerika bereisen.
Wir alle wollen nach Cartagena in Kolumbien. Seit Jahren schon machen Agenturen, Bootseigner und Skipper gute Geschäfte mit der Überfahrt von Panama über die unfassbar schönen San Blas Inseln nach Kolumbien, da der Reiseweg zwischen diesen beiden Ländern nur über Wasser und in der Luft verläuft. Es gibt nicht eine einzige Straße in den Süden. Und das, obwohl Panama bis 1903 eine kolumbianische Provinz war, bevor es unter die Einflussnahme der USA geriet, die sich den Bau des Panama-Kanals zusichern ließen und dafür Panama zur Unabhängigkeit drängten. Kolumbien, damals im Bürgerkrieg, unfähig zu einer Reaktion, erkannte den Schritt notgedrungen 17 Jahre später an, ist seitdem aber nicht mehr ganz so gut auf Panama zu sprechen.
Fünf Tage sind in der Regel für diese Segeltrips veranschlagt, von denen man drei auf den paradiesischen Inseln nahe der Küste verbringt, um danach 30 bis 40 Stunden über das offene Meer nach Cartagena zu segeln. Für uns kam das eigentlich nie in Frage. Nina als auch ich fürchteten zu sehr Seekrankheit, das endlose Meer und die Aussicht, einer Naturgewalt ausgeliefert zu sein. Und so buchten wir zwar einen Segeltörn nach Kolumbien, allerdings nach Sapzurro im Westen Kolumbiens, so dass wir nur eine küstennahe Überfahrt zu überstehen hatten. Doch dann ließ uns die Agentur wissen, dass aufgrund des „tollen Wetters“ (und wir haben das geglaubt) das gebuchte Boot nun doch nach Cartagena segeln würde. Wir könnten stornieren oder eben direkt nach Cartagena reisen. Also doch der weite Ozean? Wir diskutierten lange und nahmen die Routenänderung als Zeichen des Universums und entschieden uns voller Wagemut für den Trip. Nun ja.
Das Meeting mit Tahsin, dem Kapitän, war für 9 Uhr morgens anberaumt. Doch außer seiner düsteren Ankündigung und dem Einsammeln unserer Pässe sowie der 550 Dollar pro Person, die der Trip von Panama nach Kolumbien kostet, passiert nicht viel. Der 62-jährige Kapitän ist nicht an einer großen Fragerunde interessiert. Einzelne kryptische Aussagen wechseln sich mit Schweigen ab. Ein Seemann wie man sich ihn so vorstellt. Geheimnisvoll und ziemlich fertig. Dann ist er auch schon weg, uns zurufend, dass seine Frau und Kapitänskollegin Rengin, uns irgendwann gegen Mittag abholen wird, damit wir aufs Boot gehen. Doch daraus wird erst einmal nichts. Rengin kommt zwar, doch nur um uns zu sagen, dass sich die Abfahrt wegen diverser Passformalitäten um ein paar Stunden verzögern wird. Die erste von unzähligen schlechten Nachrichten.
Alle versuchen, die Zeit mit irgendwelchen Aktivitäten totzuschlagen. Wir schauen uns das traurige Portobelo an, das zu Zeiten der spanischen Eroberer ein glanzvoller und begehrter Umschlagsplatz für Gold, Sklaven und allerlei anderes war und wo auch der berüchtigte Pirat Sir Francis Drake verstarb. Wir treffen einen Teil der lustigen Truppe schließlich in der Ortsmitte, wo die Youngsters das einheimische Bier genießen. Gegen 16 Uhr erfahren wir dann: Wegen der schlechten Wetterlage ist keine Abfahrt möglich, aber immerhin dürfen wir aufs Boot, wo wir im Schutz des Hafens unsere erste Nacht verbringen werden. Hatten wir uns irgendwie anders vorgestellt.
Als die Schiffsbesatzung unser Boot, die „Delfin Solo“, mit Backpacks, Snacks und viel Alkohol betritt, ist die Ernüchterung groß. Man hatte sich das Ganze doch irgendwie großzügiger, wohnlicher und gepflegter vorgestellt. Das Boot, Baujahr 1978 und 14 Meter lang ist zwar aufgrund seiner klassischen Anfertigung mit viel Teakholz und einer schönen Form ein echter Hingucker, aber eben auch in die Jahre gekommen. Mobiliar, Betten, Ausstattung sind heruntergekommen. Dusche fungiert als Abstellraum und fließend Wasser gibt es nur in der Küche, wo sich für den Rest des Trips zehn Leute auf gestapelten Geschirr fortan die Zähne putzen und die Hände waschen sollten. Wir nehmen alle verständnislos wahr, dass das Boot eigentlich nur zwei Kojen hat mit Platz für 5 Personen. Für den Trip wurde schließlich der Essensbereich und eine Liege zur Schlafstatt umfunktioniert, so dass immerhin die zahlenden Passagiere über eine Schlafgelegenheit verfügen. Das gilt leider nicht für die Kapitäne, die es sich in der Nacht auf dem Deck unter freiem Himmel gemütlich machen oder, wenn es regnet, sich innen auf dem nackten Boden zwischen die anderen Liegen legen, so dass jeder Gang auf die Toilette zur artistischen Übung mutiert. Dazu beanspruchen auch zwei Katzen Raum, Aufmerksamkeit und Betten. Der penetrante Geruch der Katzenpisse und das überall herumfliegende trockene Katzenfutter sollte ein treuer Begleiter der Reise werden. „Optimale Voraussetzungen“ also.
Nina und ich haben immerhin eine Koje im Bug erwischt, mit relativ viel Privatsphäre, aber mit der Aussicht bei Wellengang die ärmsten Säue zu sein, da das Boot dort am höchsten schaukelt. Was wir da noch nicht wissen: Auf hoher See sollten die Wände großzügig lecken, der bitter notwendige Ventilator muss an zwei offenen Kabeln jedes Mal verknotet werden, damit er läuft, dazu ist die Verschlusstür aus Holz für den Anker kaputt, so dass uns die Vorrichtung, hinter der die Ankerkette verstaut ist, auf See ständig entgegenfliegen wird. All das ist uns in den Moment noch nicht so klar, aber diese Fahrt sollte eine unserer größten Herausforderungen werden.
Die Abfahrt am nächsten Morgen verzögert sich um eine Stunde. Natürlich. Tahsin muss ein gerissenes Segel notdürftig kleben. Wir alle sind in Habacht-Stellung, haben schon um 7 Uhr unsere Pillen gegen Seekrankheit genommen und schauen dem Segel beim Trocknen zu, den wir haben nur ein kurzes Zeitfenster für die Abfahrt. Es gab nämlich eine Sturmwarnung. Dass die Pillen nicht viel helfen, wissen wir da noch nicht. Der Himmel ist bedeckt und je weiter wir aufs Meer fahren desto mehr nimmt der Wind zu.
Bei den ersten tiefen Wellentälern rufen wir auf dem Deck noch „Ahs“ und „Ohs“. Doch das sollte sich bald legen. Wir halten uns schweigend irgendwo fest und fragen uns, wie wir das zehn Stunden bis zu den Inseln aushalten sollen. Der Wind kommt von vorne und das Boot kämpft unermüdlich gegen die drei bis vier Meter hohen Wellen. Wir bewegen uns im Schneckentempo voran. Es dauert schließlich keine 30 Minuten und Amanda hängt sich kotzend über die kleine Reling, Sarah folgt ihr sogleich. Ich halte es immerhin zwei Stunden aus, dann erlebe auch ich die normale Reaktion eines Körpers, dessen Magen und Kopf hoch und runter, hin und her geschüttelt wird. Es ist ein erbärmliches Gefühl und wiederholt sich so oft bis ich nur noch Wasser breche. Beinahe falle ich dabei ins Wasser, doch zum Glück hält mich Jan-Peter, von allen nur JP gerufen, am Hosenboden fest. Doch mir ist das in diesem Moment beinahe egal. Nina hält tapfer sogar noch länger aus, aber dann erwischt es auch sie. Es ist kein schönes Bild auf dem Deck, wo wir mangels einer adäquaten, wasserabweisenden Abdeckung ständig von den Wellen klitschnass gespritzt werden und wo das Sitzen auf dem nackten Holz wegen fehlender Unterlagen schon nach einer Stunde zur Qual wird. Das Martyrium hält sechs Stunden an, dann hat der Kapitän Einsicht und steuert den nächsten Hafen an, Puerto Lindo.
Das Wohlgefühl in der kleinen Bucht ist unbeschreiblich. Keine Wellen mehr, kein Schaukeln, kein Kotzen. Wir fühlen uns so als wären wir neugeboren. Die Stimmung steigt schlagartig. Am Abend fahren wir mit dem kleinen Boot eines Einheimischen an Land, zu Hans, einem Holländer, der dort ein Lokal betreibt.
Wir fühlen uns wie kleine Seemänner, die gerade unter schlimmsten Bedingungen einiges an Strecke weggerockt haben. Der Schock kommt, als JP uns eine Karte zeigt, auf der Portobelo, unser Ausgangspunkt, und Puerto Lindo in etwa 0,1 Millimeter entfernt liegen. Auf die Frage, wie weit die beiden Häfen denn entfernt seien, antwortet Tahsin mit einem sarkastischen Lächeln: „14 Kilometer. Mit dem Auto bis du in zehn Minuten in Portobelo.“ Wir sind am Boden. Sechs Stunden Qual und Kotzen für eine Strecke, die du selbst zu Fuß in einer Stunde läufst. Fuck!
Und die Aussichten sind nicht rosig. Das Wetter macht eine Weiterfahrt unmöglich. Zwei Tage Pause veranschlagt der Kapitän, bevor es endlich auf die Inseln gehen soll. Wir nehmen das alle mit Humor und vor allem mit viel Alkohol. Nicht nur an diesem Abend. Ganz weit vorne beim Anstoßen: die beiden Captains, die vor allem den Rum schlürfen als sei es Ananassaft. Als wir schließlich zu später Stunde zurück beim Boot sind, der nächste Aufreger: unsere Delfin Solo treibt ankerlos in der Bucht, ist kurz davor einen Katamaran zu rammen, deren Besitzer seit Stunden ausharren und versuchen, das fremde Boot fernzuhalten. Tahsin versteht die Szenerie zunächst nicht, erbost sich darüber, dass ein fremder Mann auf seinem Deck steht. „Get out of my fucking boat!“ Mit dem Verstehen, dass sich sein Anker gelöst hat, kehrt Demut beim Kapitän ein. Mithilfe des kleinen Transportboots des Panamesen wird unter wilden und lauten Zurufen in der Dunkelheit die Delfin Solo schließlich weggezogen.
Wie Tahsin später erzählt, hatte sich der Anker seines Erachtens nach auf eine große Tüte statt auf den Grund gelegt. Zum Glück ohne weiteren Schaden. Fehler wie diese passieren den beiden erfahrenen Segler sonst nie. Egal wie skurril das türkische Paar auch ist, egal mit welchen Segler wir in den kommenden Tagen auch reden, Tahsin und seine Frau gelten als eine der besten Skipper, die in dieser Region unterwegs sind. Seit neun Jahren segeln beide durch die See vor Panama, leben und schlafen ohne Ausnahme auf ihrem Boot, das sie in den 80ern für 60 000 Dollar kauften, als sie zusammen in Los Angeles lebten. Tahsin, in der Türkei groß geworden, hat ein äußerst bewegtes Leben hinter sich. Taucher, Segler, studierter Architekt, Fotograf – dazu ein markantes Aussehen: Hat er gute Momente, lieben wir es, seinen abenteuerlichen Geschichten zu lauschen. Hat er sie nicht, ist er cholerisch, abweisend oder schweigsam.
Am folgenden Tag sucht Tahsin dann einen Anlegeplatz im kleinen Yachthafen von Puerto Lindo. Der große Vorteil: wir können nach vier Tagen endlich duschen und dank eines kleinen Shops ist auch für genügend Alkoholnachschub gesorgt. Der ist gerade für die Unter-30-Jährigen notwendig, denn wir erfahren dann, dass wir wegen einer weiteren Sturmwarnung statt eines weiteren Tages noch fünf Tage auf die Weiterfahrt warten müssen. Entsetzen bei den meisten. Doch Nina und ich schaffen es irgendwie, absolut positiv zu bleiben und die Geschehnisse als Übung, Herausforderung und eine Art kostenlosen Workshop in Sachen Muße und Persönlichkeitsentwicklung zu sehen. Was sollen wir auch machen? Der Trip ist bezahlt. Rückweg nach Panama City und ein Flug nach Kolumbien kosten ein Heidengeld. Zum Glück hat keiner der Reisenden Weiterflüge gebucht, so dass die Verzögerung für keinen ernsthafte Probleme bereit hält. Doch die Situation macht dem einen oder anderen schon sehr zu schaffen. Ist ja auch nicht ohne. Wir liegen mit dem Boot im absoluten Nowhere und sind auch nach Tagen immer noch 14 Kilometer vom Startort entfernt. Dazu kleines Boot, fehlende Privatsphäre, mangelhafte hygienische Bedingungen, Menschen, die man kaum kennt, 24 Stunden am Tag um sich herum, dazu ein Kapitän, der nett, aber schwierig ist und… zwei eigenwillige Katzen.
Ein Tag wechselt sich mit dem anderen ab. Immerhin gibt es gutes Essen. Rengin ist eine exzellente Köchin, wenn sie Zeit hat. Die Tatsache, dass die beiden Katzen bei der Essenszubereitung ständig durch die Mahlzeit schnuppern und laufen, sorgt für begrenzte Begeisterung bei uns allen.
Nina und ich genießen geradezu die Isolation, und das, obwohl wir total auf uns selbst zurückgeworfen sind oder gerade deshalb? Kein Internet, kaum Abwechslung gilt es die Geschehnisse so zu akzeptieren wie sie sind. Das gelingt uns. Wir vertreiben uns die Zeit mit Erkundungsgängen, Yoga, sonnenbaden an Deck, tollen Gesprächen mit Toni, mit dem wir das Leben hoch- und runterquatschen. Wir genießen den Moment. Denken nicht an das, was sein könnte, was der Plan war. Daneben ist Nina die psychologische Beauftragte des Bootes. Wenn jemand sich offenbaren will oder ein Konflikt sich entlädt – ist sie zur Stelle. Highlights sind die Back-Flip-Wettbewerbe von der Reling aus, bei denen sich Ropey, der Australier und Sarah aus England als wahre Profis geben und unglaubliche Pirouetten drehen. Auch wir Oldies trauen uns sogar und haben mit Ropey einen Spitzen-Back-Flip-Coach.
Und natürlich werden weiterhin Unmengen getrunken, anlässlich des Mitttagessens, des Abendessens, des Sonnenuntergangs oder von Trinkspielen. Der starke Wind begleitet uns die ganze Zeit und sorgt dafür, dass an der kompletten Küste wegen einer Sturmwarnung weiterhin alle Häfen gesperrt werden. Rengin schüttelt immer wieder den Kopf: „So etwas haben wir in neun Jahren nicht zu dieser Jahreszeit erlebt.“
Nach genau einer Woche gibt es endlich grünes Licht und wir setzen an einem Freitagfrüh tatsächlich die Segel. Wir nehmen unsere Dramamine-Pillen und erwarten das Schlimmste. Das Wetter hat sich zwar beruhigt, doch Wellen und Wind verlangen an diesem Tag wieder allen alles ab. Vor allem Tahsin, der sich mit seinen 62 Jahren wie eine Katze auf dem Deck bewegt und selbst bei schwerstem Seegang sicher und behände die Segel setzt, Leinen einholt und das Ruder führt. Die Überfahrt dauert zehn Stunden und wir haben sogar die Möglichkeit auf der Fahrt zwei Makrelen an Bord zu holen. Wir nehmen alle vier Stunden unsere Tabletten und schaffen es tatsächlich – diesmal ohne Übergeben.
Endlich da! Genau eine Woche verspätet ankern wir tatsächlich vor den San Blas Inseln.
Was wir sehen ist spektakulär, wunderschön und paradiesisch. War die letzten Tage was? Am Abend bereitet Rengin die zwei frisch gefangenen Fische zu, wir trinken Rum-Cola und genießen die warme Brise des Ozeans. Es folgen drei äußerst entspannte Tage. Gut, Schnorcheln für alle gleichzeitig fällt zwar aus, weil die Gerätschaften aufgrund von Verschimmelung schon beim Anblick Krankheiten übertragen, aber das tut der guten Stimmung keinen Abbruch.
An einem Abend ziehen wir alle weiß an und feiern auf einer Insel mit anderen Reisenden und den Einheimischen. Diese nennen sich Kuna und bevölkern die 365 Inseln des Archipels der Guna Yala, wie sie die Region nennen. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Kuna zeitweise unabhängig von Panama gewesen, wurden dann aber wieder eingegliedert, nach einem weiteren Aufstand aber immerhin mit Verwaltungsrechten für ihr Territorium ausgestattet. Auffällig: Mit ihrer geringen Körpergröße sind die Kuna nach den Pygmäen das zweitkleinste Volk der Erde. Auch die Abwesenheit von westlichen Projekten auf den Trauminseln wirkt im 21. Jahrhundert fremd, kommt aber daher, dass es verboten ist, Land der Kuna zu kaufen, verkaufen oder zu verpachten. Bambushütte statt Luxusbungalow. Tradition statt Moderne. Wir lieben es. Wir bemerken auch: Das starke Geschlecht des Volksstammes ist die Frau. Sie machen Geschäfte, führen die Lokale. Auch sämtliche Gottheiten sind weiblich. Women rule. Dazu sind wir erstaunt über die hakenkreuzähnliche Flagge der Kuna mit einem nach links zeigenden Haken. Doch der hat absolut nichts mit Hitler oder Buddhismus zu tun, sondern stellt einfach nur einen Kraken dar, der nach lokaler Überlieferung die Welt erschuf. Puuh. Trotzdem gewöhnungsbedürftig.
Wir genießen die Zeit, die aber auch nicht ohne Konflikte bleibt. An einem Tag bemerke ich, dass meine gerade frisch erworbene Rumflasche leer in der Kühlbox liegt. Dass Kapitän Tahsin parallel betrunken auf dem Deck liegt ist Indiz genug, doch bei Nachfrage streitet Tahsin alles ab. Ich akzeptiere es, aber Rengin steckt mir kurze Zeit später eine zu zwei Dritteln geleerte Flasche zu. Immerhin. Tahsin ist auch für den nächsten Eklat zuständig. Amanda gibt ihm zwar recht rabiat zu verstehen, dass sie Oktopus zum Abendessen ziemlich eklig findet, für den leicht angetrunkenen Tahsin aber Grund genug, sie beinahe vom Boot zu werfen und zu beschimpfen. Ein Bruch in dem Verhältnis von Kapitän und Gruppe.
Es wird endlich Zeit zum Ankommen, auch wenn wir uns kaum von Anblick der Inseln lösen können. Nach elf Tagen auf einem 46 Fuß langen Boot wollen wir nun endlich nach Kolumbien. Doch da wäre ja noch die Überfahrt nach Cartagena. Die Wetterlage macht unseren Captains erneut Sorge. Normalerweise dauert die Fahrt 28 bis 40 Stunden. Wir sollten 48 Stunden brauchen, und das, ohne dass wir tatsächlich im Hafen von Cartagena einlaufen sollten.
Im Nachhinein fragen wir uns, wie wir diese zwei Tage ohne warmes Essen, mit heftigstem Wind und Dauerwellengang ausgehalten haben. In der Zeit nehmen wir acht, neun Pillen, die uns in eine Dauerdösigkeit tauchen und uns immerhin den Wellengang aushalten lassen. Das Schlimmste ist das Nichtstun und das Herunterzählen der Stunden auf Deck, wo sich kaum noch unterhalten wird. Gegessen wird nur trockenes Toastbrot mit Erdnussbutter. Nina geht da Gluten-technisch leider leer aus. Zwei, drei andere machen sich eine Instant-Nudel-Soup fertig. Mir ist das bereits zu viel. Wir fahren eine Nacht, einen ganzen Tag und eine weitere Nacht, als Nina morgens um 5 Uhr auf zwei völlig durchnässte, entkräftete und mutlose Kapitäne trifft. „Jetzt geht es nur noch darum, heil an Land zu kommen.“ Der direkte Weg nach Cartagena wurde in der Nacht aufgrund von Wetter-Turbulenzen bereits verlassen. Das Boot bog viel früher Richtung Küste ab, dort irgendwo im Westen Kolumbiens soll nun die Reise enden. Doch so schlecht das Wetter in der Nacht war, so gut wird es eine Stunde später. Rengin ist euphorisch: „Es gibt jetzt doch wieder die Möglichkeit, es nach Cartagena zu schaffen.“ Parallel zur Küste geht es nun Richtung Zielort. Doch am späten Vormittag dreht der Wind erneut, kommt nun von vorne. Das Boot schleppt sich voran.
60 Kilometer vor Cartagena geben die Captains auf. Es hat keinen Sinn mehr. Wir drehen rechts ab, ankern vor Baru, wo wir schließlich an Land gehen. Alle atmen auf, noch eine Stunde und wir sind endlich da. Wir organisieren an einem Kiosk ein Taxi, das in Form eines klapprigen Jeeps schließlich daherkommt. Wir verabschieden Tahsin. Es ist Rengin, die mit uns kommt, um sich um die Einreiseformalitäten zu kümmern. Es fühlt sich komisch an: Wir sind in Kolumbien angekommen und keiner hat es mitbekommen. Immigration ist manchmal so einfach und doch so schwer. In Cartagena bekommen wir dann brav alle unsere Einreisestempel.
Wir sitzen im Yachthafen der Stadt, als wir uns verabschieden. Nur wenig Wehmut liegt in der Luft. Alle sind geschafft, wollen nur noch ins Hotel. Eine Reisegruppe auf dem Weg zu einem Boot, das nach Panama segelt, kommt vorbei und erzählt euphorisch von der bevorstehenden Überfahrt. Wir halten uns mit Kommentaren zurück, sind einfach nur froh, mit der Gruppe nicht tauschen zu müssen. Das, was dieser Segeltörn wirklich an Erfahrungen für uns gebracht hat, werden wir wohl mit einigem Abstand erkennen. Für uns ist jetzt schon klar: bei allen Schwierigkeiten hat es sich dennoch gelohnt. Allein um zu erfahren, wo wir innerlich stehen, wie mutig wir sind, wie wir inzwischen mit unseren Ängsten umgehen können, mit welcher Geduld wir die Dinge an- und hinnehmen und wie leicht es uns fällt, einfach DA zu SEIN. Panama-Cartagena ? Vielleicht doch nochmal. Aber dann definitiv auf einem anderen Boot.…
Was für ein Abenteuer, wir haben richtig mitgefiebert, vor allem ich als alter Pirat, da wär ich wohl auch an die Grenzen gestossen; toll geschrieben und authentisch – Kompliment. Freuen uns auf Euch.
gut, dass wir euch schon im Original wiedergesehen haben! Der Atem stockt + Schwindel stellt sich ein beim Lesen!
Wow ihr beiden,
ein sehr bewegend geschriebener Artikel. Da habe ich richtig mitgefiebert.
Wir planen gerade auch unseren Mittelamerika-Trip und sind über jede Information sehr dankbar. Nach Lesen Eures Artikels werden wir wahrscheinlich das Flugzeug nehmen. Denn ich glaube nicht dass wir die Durchhaltekraft von Euch hätten! 😉
LG aus dem Ruhrgebiet,
Andreas und Sabrina