Das Abendessen am großen Tisch hat etwas Therapeutisches. Wie Krieger nach einer Schlacht, wenn sie sich ihre Verletzungen auflisten, sitzen die etwa 12 Ayurveda-Gäste da und berichten von ihrem Tag. Es ist nicht immer schön, was man hört.

Das Abendessen mit lebhaften Gesprächen.

Das Abendessen mit lebhaften Gesprächen.

Viele der Europäer kommen bei Matt India Ayurveda schnell an ihre Grenzen, körperlich wie seelisch. Manche haben sich südlich von Cochin in Südindien nur für eine Woche eingebucht, doch die meisten kommen für 21 Tage in das ehemalige Hospital. Es geht um Reinigung, zu sich kommen, aber auch um körperliche Beschwerden loszuwerden.

Matt Inidia, seit über 10 Jahren gibt es hier Ayurveda.

Matt India, seit über 10 Jahren gibt es hier Ayurveda.

Doch bevor das passiert bekommen viele anscheinend erst einmal welche dazu. Ein junger Franzose, gerade mal 20 Jahre alt, ist kurz vor der Abreise. Der Yoga-Freak, dem es nach einigen Exzessen vor allem um eine Entgiftung ging, schläft kaum noch, hat Rückenschmerzen und riesige Aphten im Mundraum. Sein Körper kämpft – mit der Behandlung, der Umgebung, dem Essen. Man sieht ihn kaum noch. Auch dem dänischen Sozialarbeiter, 56 Jahre alt, geht es nicht gut. Anstatt wie sonst lebhaft mitzudiskutieren, sitzt er still am Ende des Tisches und will mehr für sich bleiben. Ihm haben die harten Massagen zugesetzt. Der blonde Schwede, Model und Tänzer in Paris, der sich mit einer Freundin aus San Francisco und einem Freund aus London hier getroffen hat, um die Körper zu reinigen, schaut erschöpft aus. Die isländische Apothekerin daneben , die mit ihrer Tochter, einer Ärztin, da ist, berichtet von ihrer Angst vor der nächtlichen Darmentleerung.
Von wegen Wellness.

Nina nach der Behandlung.

Nina nach der Behandlung.

Besonders die Massagen haben es in sich. Denn die Ayurveda-Spezialisten gehen in die Schmerzen hinein. Tagelang bearbeiten die Masseure schmerzhafte Stellen. Ein Umgang, den viele nicht gewohnt sind und nicht erwartet haben. Es geht um muskuläre Beschwerden oder Verletzungen, die mitgebracht wurden, oft aber auch um Blockaden, die bis dahin gar nicht bemerkt wurden und zum Teil seelischer Natur sind. Die zu lockern oder zu lösen kostet viel Kraft.

Mounir auf der Pritsche.

Mounir auf der Pritsche.

Tagsüber hört man häufiger mal Schreie und lautes Aufstöhnen aus den Behandlungszimmern, die wie die Räume der Unterkunft sehr „basic“ sind. Eine Französin aus der Nähe von Lyon, kann nicht mehr, sie weint. Ihr ist alles zu viel. Die schlichten Zimmer, die vielen Mücken, die harte Behandlung. Nun soll sie auch noch eine Darmreinigung hinter sich bringen. Sie hat sich das alles ein wenig anders vorgestellt. So etwas gibt es häufiger. Der Zuspruch der anderen hilft aber. Es ist eine Übergangs-Community, die seelsorgerische Funktionen hat. Man verarbeitet die Geschehnisse gemeinsam, was auch sehr lustig sein kann.

Wenn sich die Frauen gestehen, welche Scham sie haben, wenn sie nackt und sitzend, die Beine spreizen müssen, um massiert zu werden, wenn man davon erzählt, wie warmes Öl in den Dickdarm eingefüllt wird, die kleinen Masseurinnen einen mit Füßen massieren oder wie andere eine Stunde lang, Säckchen mit speziellem Milchreis auf dem nackten Körper abklopfen, dann ist das Gelächter groß.

Simi und Mundza, Die beiden Masseurinnen von Nina.

Lachen bevor es losgeht: Lucy und Manzu, zwei Masseurinnen.

Nina mit ihren Masseurinnen Manzu, Lucy und Simi.

Nina mit ihren Masseurinnen Manzu, Lucy und Simi.

Das Gleichgewicht der Energien

Nicht jeder muss aber durch die Hölle gehen. Alles hängt von der eigenen Konstitution ab. Bei einem Aufnahme-Gespräch entscheidet ein Ayurveda-Arzt, wie der Behandlungsplan aussieht. Die Ayurveda-Medizin geht davon aus, dass es drei Lebensenergien gibt, die in jedem Menschen vorhanden sind. Diese sind Vata (Wind, Luft, Äther), Pitta (Feuer und Wasser) sowie Kapha (Erde und Wasser). Ist man gesund befinden sich diese Energien in einem harmonischen Zustand. Disharmonien dagegen erzeugen Krankheiten. Für die Behandlung muss der Arzt erst feststellen, wie das Verhältnis dieser drei Energien ausgeprägt ist; man nimmt an, dass in jedem Menschen die Energien anders angeordnet sind. Hat sich der Arzt einen Überblick verschafft legt er fest, inwieweit die Balance gestört ist und wie man sie durch Ernährung, Massagen, Medizin und Yoga wiederherstellen kann. Die Bedingungen bei Matt India sind bewusst einfach gehalten. Joy, der Gründer der Einrichtung, will, dass die Gäste auf sich selbst zurückgeworfen werden, dazu ermöglicht diese Kosteneinsparung bei der Einrichtung, dass nach wie vor alle Bewohner der Umgebung bei akuten Fällen kostenlos behandelt werden können.

Nina beim allmorgendlichen Yoga.

Nina beim allmorgendlichen Yoga.

Nina und ich müssen ziemlich nah an unserem Gleichgewicht sein, denn unser Behandlungsprogramm, die Yoga-Stunden um 7 Uhr und das vegetarische Essen haben nur wenig mit Schmerzen und Überwindung zu tun. Wir können uns glücklich schätzen. Ungesunde Angewohnheiten aufgeben, Sport treiben, den Körper entschlacken und Energien zuzuführen, alles reduzieren, viel schlafen  –  das tut einfach verdammt gut.

Viel Schlaf in Indien.

Viel Schlaf in Indien.

Nach einer Woche Massagen, Yoga, Behandlungen, veganem Essen, Verzicht auf Alkohol und Kaffee sowie sehr viel Schlaf fühlen wir uns richtig gut. Und das sagen auch die allermeisten, die die Behandlung bis zum Schluss durchhalten. Trotz aller Leiden gibt es fast keinen, der nicht sagt, er würde die Erfahrung nicht wiederholen. Trotz aller Opfer und Schmerzen – am Ende fühlen sich alle besser. Das hat auch mit den bezaubernden Mitarbeitern zu tun, die einen bei Bedarf auffangen und trotz aller Härte bei den Behandlungen immer liebevoll sind. Aber die Härte scheint notwendig zu sein, um den inneren Widerstand zu Beginn zu brechen, um sich ganz auf die Behandlung einzulassen.

Ein 62-jähriger Franzose aus Paris, Pfleger im Beruf, jammerte eine Woche lang beinahe jeden Tag. Doch seit zwei Tagen hat sich das Blatt gewendet. Am Morgen war er bei der Leitung. Nicht um sich zu beschweren, sondern um sich für den Februar erneut einzubuchen. Zu früh sagte man ihm, der Körper brauche mindestens sechs Monate, um all das aufzunehmen, was mit ihm während der Kur geschehen ist. Er zeigt seine blauen Flecken und sagt: „Ich habe die Kurve gekriegt und spüre, wie mein Körper nun ganz anders auf die Behandlungen reagiert. Ich komme zu mir.“ Die anderen nicken am Tisch. Und für einen Moment ist es ganz still.

Share: